von Isolde » Sa Okt 12, 2019 3:54 pm
GEHEN ODER BLEIBEN?
Aufgelesen in "Christ & Welt" Wochenzeitung für Glaube, Geist, Gesellschaft, Nr. 33 - 08. August 2019:
Tom Kroll
Der Rückkehrer
Als Kind ging der Vater unseres Autors in die Kirche.
Als Erwachsener blieb er ihr fern. Fast 45 Jahre lang. Nun geht er wieder hin. Warum?
"In letzter Zeit verdichten sich die Hinweise, dass sich etwas im Leben meines Vaters verändert hat. Zuerst waren da die kryptischen Bemerkungen am Telefon. Er habe mitgeholfen, Äste und Laub auf dem Friedhof zusammenzutragen. Oder, dass er jetzt sonntags etwas vorhabe.
Als wir uns das letzte Mal sahen, es war Weihnachten, sagte er: "Ich gehe wieder in die Kirche." Ich fand diesen Satz bemerkenswert, gerade in einer Zeit, in der immer mehr und mehr Menschen aus der Kirche austreten, Kirchen zu Veranstaltungsorten umgewandelt oder manchmal ganz dem Erdboden gleichgemacht werden.
…und noch etwas spricht gegen die plötzliche Kirchgängerschaft meines Vaters (65 Jahre): Er war nie religiös, jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte. Nie waren wir Weihnachten gemeinsam in der Kirche...
Nun will ich wissen, was sich bei ihm verändert hat. Was ihn zu einem disziplinierten Kirchgänger gemacht hat. Dazu haben wir uns verabredet. Da, wo er nun einige seiner Sonntagmorgen verbringt, in der Dorfkirche von Kirch Rosin, im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, einem Dorf von 1100 Einwohnern...
Die kleine Kirche, 700 Jahre altes Gemäuer schmucklos, aus rotem Backstein gemauert, kalt, die Wände gelb gestrichen und von der Wand schaut Moses in Terrakottafarbe auf die Gläubigen herab.
In der Kirche sind außer uns neun andere Menschen. Vor allem ältere. Vor mir sitzt ein Mann mit einem Hörgerät, daneben eine Frau, die immer wieder einschlafen wird. Plötzlich geht die schwere Kirchentür auf und eine Wandertruppe, lauter junge Menschen mit Rucksäcken tritt herein. "Gar nicht repräsentativ heute", grummelt mein Vater...
Der Pastor schaut noch einmal in die Runde, er lächelt. Dann beginnt er seine Predigt mit den Worten: "Immer und immer wieder im Kreis, die richtige Ausfahrt verpasst"...
Damals in Gelsenkirchen, Ende der Fünfzigerjahre als die gesamte Ruhrregion noch rußverhangen und die weiße Wäsche, die draußen zum Trocknen hing, schwarz wurde, schickten seine Eltern ihn jeden Sonntag um acht Uhr in den Kindergottesdienst. Die Bibelgeschichten waren für meinen Vater eine willkommene Abwechslung vom Alltag in der Enge. Die Kirche wurde ein Ort der Zuflucht. Eine Zuflucht mit tollen Geschichten...
Es waren die späten Sechziger, als er das Buch "Der Christ als Rebell" des Theologen und Harvard-Professors Harvey Cox las. "Che Guevara war ja damals ziemlich in", sagte er mir am Telefon, "aber ich fand Jesus viel revolutionärer." Heute ist er wieder begeistert von seinen alten Gedanken, doch damals ging der "Schub" seiner Teenagerzeit vorbei. Andere Dinge, das "Erwachsenenleben" wurde wichtiger.
Und irgendwann zwischen seiner Zeit als Offizier bei der Bundeswehr und dem Jurastudium habe er dann angefangen, seinem Glauben zu misstrauen…
Nach dem Lied setzt der Pastor seine Rede fort. Auf die Kanzel steigt er nicht. Pastor Görlich ist ein Mann, der ebenerdig zu seiner Gemeinde spricht. Mein Vater mag das. Und nicht nur das. Mein Vater mag die lebendige Sprache des Pastors. Das rege seine Fantasie an, und er könne im Gottesdienst abschalten. "Die Vogelperspektive einnehmen ", sagt er. Und manche Predigten berühren ihn...
In Kirch Rosin neigt sich der Gottesdienst dem Ende entgegen. Wir stehen auf. Mein Vater faltet die Hände. Er hält seine Augen geschlossen. Wir beten das Vaterunser. Minuten später treten wir in den Sonnenschein. Zünden uns jeder eine Zigarette an. Rauchend laufen wir am Friedhof entlang. "Und, war doch schön?", fragt mich mein Vater, ich antworte nicht...
Gestern am Telefon sagte er:" Im Alter können drei Dinge mit dir passieren. Entweder du verblödest, du gehst deinen Weg weiter und bekommst einen Herzinfarkt, oder du wirst nachdenklich." Mein Vater bekam Krebs und dachte nach.
Er sagte, der Krankenhausaufenthalt war das letzte Mosaiksteinchen auf dem Weg in ein langsameres Leben. Vorher war da der Tod eines Bekannten, die Pleite von Freunden. Und die Gespräche mit Mandanten, deren Kinder im Knast saßen. Doch erst im Krankenhaus kam dieser Moment. Ein tiefes Gefühl sei da gewesen, sagt mein Vater. Ein Aha-Erlebnis. Danach habe er alles langsamer gemacht...
Und es war an einem Sonntag, vor etwa zwei Jahren. Mein Vater erzählt, er sei frühmorgens wach geworden. Und da sei ihm die Idee gekommen. Warum nicht, dachte er sich. "Eine Schnapsidee, aber eine glückliche", sagte er am Telefon. Und dann in der Kirche, da fand er, was er gesucht hatte. Gleichgesinnte. Menschen, die das Immaterielle im Leben suchen...
Doch er freut sich nicht nur über die Menschen, die er dort kennenlernte. Sondern auch darüber, dass er sich nun häufiger Gedanken zu Gott machte. Auf die Frage: "Was ist Gott für dich?", antwortete er: "Gott hat für mich keinen Aggregatzustand", ist also weder fest noch flüssig, noch gasförmig. Gott sei für ihn eine Kraft, die in allem steckt. Als Kind lockten ihn die Geschichten, als Jugendlicher war er von Jesus begeistert, als junger Erwachsener hat er in der Idee des Protestantismus Halt gefunden. Wenn er heute sagt: Gott ist in allem, dann denke ich darüber nach, dass Gott auch in ihm ist, wenn er einmal wieder zu Staub wird."
Dieser Text ist entstanden in Kooperation mit "bref", dem Schweizer Magazin der Reformierten.
[b]GEHEN ODER BLEIBEN?[/b]
[b]Aufgelesen in "Christ & Welt" Wochenzeitung für Glaube, Geist, Gesellschaft, Nr. 33 - 08. August 2019:[/b]
Tom Kroll
[b]Der Rückkehrer[/b]
Als Kind ging der Vater unseres Autors in die Kirche.
Als Erwachsener blieb er ihr fern. Fast 45 Jahre lang. Nun geht er wieder hin. Warum?
"In letzter Zeit verdichten sich die Hinweise, dass sich etwas im Leben meines Vaters verändert hat. Zuerst waren da die kryptischen Bemerkungen am Telefon. Er habe mitgeholfen, Äste und Laub auf dem Friedhof zusammenzutragen. Oder, dass er jetzt sonntags etwas vorhabe.
Als wir uns das letzte Mal sahen, es war Weihnachten, sagte er: "Ich gehe wieder in die Kirche." Ich fand diesen Satz bemerkenswert, gerade in einer Zeit, in der immer mehr und mehr Menschen aus der Kirche austreten, Kirchen zu Veranstaltungsorten umgewandelt oder manchmal ganz dem Erdboden gleichgemacht werden.
…und noch etwas spricht gegen die plötzliche Kirchgängerschaft meines Vaters (65 Jahre): Er war nie religiös, jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte. Nie waren wir Weihnachten gemeinsam in der Kirche...
Nun will ich wissen, was sich bei ihm verändert hat. Was ihn zu einem disziplinierten Kirchgänger gemacht hat. Dazu haben wir uns verabredet. Da, wo er nun einige seiner Sonntagmorgen verbringt, in der Dorfkirche von Kirch Rosin, im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, einem Dorf von 1100 Einwohnern...
Die kleine Kirche, 700 Jahre altes Gemäuer schmucklos, aus rotem Backstein gemauert, kalt, die Wände gelb gestrichen und von der Wand schaut Moses in Terrakottafarbe auf die Gläubigen herab.
In der Kirche sind außer uns neun andere Menschen. Vor allem ältere. Vor mir sitzt ein Mann mit einem Hörgerät, daneben eine Frau, die immer wieder einschlafen wird. Plötzlich geht die schwere Kirchentür auf und eine Wandertruppe, lauter junge Menschen mit Rucksäcken tritt herein. "Gar nicht repräsentativ heute", grummelt mein Vater...
Der Pastor schaut noch einmal in die Runde, er lächelt. Dann beginnt er seine Predigt mit den Worten: "Immer und immer wieder im Kreis, die richtige Ausfahrt verpasst"...
Damals in Gelsenkirchen, Ende der Fünfzigerjahre als die gesamte Ruhrregion noch rußverhangen und die weiße Wäsche, die draußen zum Trocknen hing, schwarz wurde, schickten seine Eltern ihn jeden Sonntag um acht Uhr in den Kindergottesdienst. Die Bibelgeschichten waren für meinen Vater eine willkommene Abwechslung vom Alltag in der Enge. Die Kirche wurde ein Ort der Zuflucht. Eine Zuflucht mit tollen Geschichten...
Es waren die späten Sechziger, als er das Buch "Der Christ als Rebell" des Theologen und Harvard-Professors Harvey Cox las. "Che Guevara war ja damals ziemlich in", sagte er mir am Telefon, "aber ich fand Jesus viel revolutionärer." Heute ist er wieder begeistert von seinen alten Gedanken, doch damals ging der "Schub" seiner Teenagerzeit vorbei. Andere Dinge, das "Erwachsenenleben" wurde wichtiger.
Und irgendwann zwischen seiner Zeit als Offizier bei der Bundeswehr und dem Jurastudium habe er dann angefangen, seinem Glauben zu misstrauen…
Nach dem Lied setzt der Pastor seine Rede fort. Auf die Kanzel steigt er nicht. Pastor Görlich ist ein Mann, der ebenerdig zu seiner Gemeinde spricht. Mein Vater mag das. Und nicht nur das. Mein Vater mag die lebendige Sprache des Pastors. Das rege seine Fantasie an, und er könne im Gottesdienst abschalten. "Die Vogelperspektive einnehmen ", sagt er. Und manche Predigten berühren ihn...
In Kirch Rosin neigt sich der Gottesdienst dem Ende entgegen. Wir stehen auf. Mein Vater faltet die Hände. Er hält seine Augen geschlossen. Wir beten das Vaterunser. Minuten später treten wir in den Sonnenschein. Zünden uns jeder eine Zigarette an. Rauchend laufen wir am Friedhof entlang. "Und, war doch schön?", fragt mich mein Vater, ich antworte nicht...
Gestern am Telefon sagte er:" Im Alter können drei Dinge mit dir passieren. Entweder du verblödest, du gehst deinen Weg weiter und bekommst einen Herzinfarkt, oder du wirst nachdenklich." Mein Vater bekam Krebs und dachte nach.
Er sagte, der Krankenhausaufenthalt war das letzte Mosaiksteinchen auf dem Weg in ein langsameres Leben. Vorher war da der Tod eines Bekannten, die Pleite von Freunden. Und die Gespräche mit Mandanten, deren Kinder im Knast saßen. Doch erst im Krankenhaus kam dieser Moment. Ein tiefes Gefühl sei da gewesen, sagt mein Vater. Ein Aha-Erlebnis. Danach habe er alles langsamer gemacht...
Und es war an einem Sonntag, vor etwa zwei Jahren. Mein Vater erzählt, er sei frühmorgens wach geworden. Und da sei ihm die Idee gekommen. Warum nicht, dachte er sich. "Eine Schnapsidee, aber eine glückliche", sagte er am Telefon. Und dann in der Kirche, da fand er, was er gesucht hatte. Gleichgesinnte. Menschen, die das Immaterielle im Leben suchen...
Doch er freut sich nicht nur über die Menschen, die er dort kennenlernte. Sondern auch darüber, dass er sich nun häufiger Gedanken zu Gott machte. Auf die Frage: "Was ist Gott für dich?", antwortete er: "Gott hat für mich keinen Aggregatzustand", ist also weder fest noch flüssig, noch gasförmig. Gott sei für ihn eine Kraft, die in allem steckt. Als Kind lockten ihn die Geschichten, als Jugendlicher war er von Jesus begeistert, als junger Erwachsener hat er in der Idee des Protestantismus Halt gefunden. Wenn er heute sagt: Gott ist in allem, dann denke ich darüber nach, dass Gott auch in ihm ist, wenn er einmal wieder zu Staub wird."
[i]Dieser Text ist entstanden in Kooperation mit "bref", dem Schweizer Magazin der Reformierten.[/i]